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Ebenfalls zu Tisch war auch Filippo Ingrassia, den man
»den Dichter« nannte, da er im Wahlkampf des Vorjahrs
vier Verse deklamiert hatte, die beim Volk auf
Zustimmung gestoßen waren:
Gegessen haben wir
Und getrunken,
Nieder mit Gallo,
Es lebe Scaduto!
Auch jetzt schwirrten ihm allerlei Reime durch den Kopf:
ein Epitaph für die Grabstätte der Firma Barbabianca, das
er rechtzeitig bis zum Abend zu Papier gebracht haben
mußte.
Paolo Attard, der ein Stockwerk unter Filippo Ingrassia
wohnte, speiste zu Mittag. Er wurde »das Wiesel«
genannt, nicht nur wegen seiner Geschicklichkeit, mit der
er die verstecktesten Absichten der anderen ans Tageslicht
beförderte, sondern auch wegen seines schlingernden
Gangs. In der Politik waren er und Ingrassia Todfeinde
wenn sie sich auf der Haustreppe begegneten, wurde es
immer problematisch: Jeder von ihnen verkündete dann, er
würde ausziehen, doch Gewohnheit und Bequemlichkeit
behielten die Oberhand , und deshalb hatte Paolo Attard
den Vierzeiler von Filippo Ingrassia mit einem
außerordentlichen Intelligenzstreich neutralisiert:
Gegessen haben wir
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Und getrunken,
Nieder mit Gallo,
Es lebe Scaduto!
»Auch die Umkehrung der Faktorenanordnung ändert
nichts am Ergebnis«, lautete der Kommentar des Marchese
Curtò di Baucina, der gerade eine passierte Gemüsesuppe
und ein Glas Milch zu sich nahm (In der Politik sind sie
doch alle gleich: jeden Augenblick in der Lage, dem Volk
eins reinzuwürgen).
Er war ein Mann voller Widersprüche: So knauserig er
war er konnte schon wegen eines Buketts Brokkoli auf
einen schießen lassen , war er auch wiederum sehr
weitsichtig, was die Ideen der Sozialreform anging, die er
im Zirkel der Adligen vorzutragen beliebte. Die Wucht
und die Überzeugungskraft seiner Worte waren dermaßen
groß, daß er nicht nur bei denen seines Stands als echter
Revolutionär galt, sondern sogar bei den Arbeitern in
seinen Minen, die sich beinahe glücklich priesen, weniger
Lohn zu erhalten, um des Preises willen, unter einem so
liberalen Herrn dienen zu dürfen.
Von Alajmo bis Zizza aßen alle zu Mittag, aber es war
nicht die übliche Eßweise wie an den anderen Tagen: Wer
es sich für gewöhnlich gemütlich machte, hatte jetzt Eile,
und umgekehrt; wer ein Weintrinker war, brachte jetzt nur
Wasser herunter, und umgekehrt; wer immer nur den
zweiten Gang zu sich nahm, hätte jetzt auch gern den
ersten gewollt, und umgekehrt.
Nicht zu Tisch saß jedoch Don Angelino Villasevaglios,
der zuerst auf seiner Terrasse in der Sonne geschmort
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hatte und sich jetzt von Nino eine Decke hatte bringen
lassen, denn das Wetter schlug tatsächlich um.
Auch der Prinz von Sommatino speiste nicht zu Mittag,
sondern saß unbeweglich auf seinem Sessel, verloren in
Gedanken an das Perpetuum mobile.
Masino Bonocore aß nicht. Wie erstarrt saß er am offenen
Fenster und spürte, wie sich sein Blut in Bewegung setzte,
um wieder gleichmäßig in jeder Vene zu fließen und im
rechten Maß sein Herz zu erreichen.
»Wie viele sind wir hier im Ort?« hatte sich eines Tages
der Baron Raccuglia während einer Unterredung mit dem
Ingenieur Lemonnier gefragt, und noch bevor der andere
überhaupt den Mund hatte aufmachen können, hatte er
auch schon die Antwort parat: »Acht oder neun Familien
von unserem Stand und rund dreißig Bürgerfamilien. Also
so um die dreihundert Personen.«
»Aber wenn das Dorf doch neuntausend Seelen zählt!«
hatte Lemonnier ihm entgegengehalten.
»Zählt? Was zählt?« hatte sich der Baron ernsthaft
gewundert. »Der Rest zählt doch nicht, verehrter Freund.«
»Sie mögen nicht zählen, aber es gibt sie«, hatte
Lemonnier leicht gereizt auf seinem Standpunkt beharrt.
»Sie werden ja wohl nicht behaupten wollen, daß sie
unsichtbar sind.«
Ohne ein Wort hatte der Baron ihn einfach nur angese-
hen, denn sofort war ihm der Zweifel gekommen, ob sich
hinter der höflichen und zivilisierten Fassade des Piemon-
tesers nicht ein gefährlicher Aufrührergeist verbarg. Aber
der Baron war im Recht und der Ingenieur im Unrecht: Es
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gab sie schon, die anderen achttausendsiebenhundert
Seelen offen gesagt, war es übertrieben, sie so zu
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